Liebe Preisträger*innen des diesjährigen Theaterpreises, liebe Theaterfreunde Paderborn, sehr geehrte Frau Kreuzhage, sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich sehr, heute im Rahmen der Verleihung des Theaterpreises zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich danke Herrn Rings vom Förderverein für die freundliche Einladung nach Paderborn und gratuliere den Preisträger*innen des 5. Theaterpreises herzlich.
Wie der Titel meines Vortrags bereits andeutet, möchte ich heute Vormittag ein paar Gedanken in den Raum stellen, die um die Frage kreisen, was das Theater bewirken kann in dieser unruhigen, sehr bewegten Zeit, die beherrscht wird von einem Krieg in Europa, explodierenden Preisen und gefühlt immer näher kommenden Naturkatastrophen auch bei uns im Land. Wir leben in einer Gegenwart, in der sich viele Menschen so ausgeliefert und ohnmächtig fühlen wie selten zuvor. Was kann das Theater in einer derart verunsicherten Atmosphäre leisten, außer für Ablenkung vom Alltag zu sorgen? Was kann das Spiel auf der Bühne uns geben, welche Kräfte in uns stärken oder wecken? Oder sollte das Theater doch bitte gar nichts leisten müssen, ja, wirkt es vielleicht gerade dann besonders nachdrücklich und positiv, wenn es nicht zu absichtsvoll um Diskursives bemüht ist, sondern sich stattdessen der Freiheit des Spiels hingibt, in uns Lust und das Gefühl der Freiheit weckt und uns so beflügelt, zum Lachen bringt oder auch zum Widerspruch reizt?
Diese Fragen nach dem Sinn, der Funktion und der Wirkungsweise des Theaters sind so alt wie die Bühnenkunst selbst und sie wurden in Deutschland spätestens seit dem 18. Jahrhundert und der Gründung zahlreicher Staats-, Landes-und Stadttheater immer wieder lebhaft diskutiert. In diesem Zusammenhang ist es interessant, sich zu vergegenwärtigen, dass die Gründung der ersten Staatstheater im 18. Jahrhundert dazu dienen sollte, die damals existierende Spaltung zwischen den umherwandernden Volkstheatertruppen, die auf Marktplätzen und ähnlichem gastierten, und dem höfischen Theater, das der Aristokratie vorbehalten war, zu überwinden: Alle die deutsche Sprache verstehenden, empfindenden und denkenden Wesen sollten in einem Theater zusammenkommen, unabhängig von ihrem sozialen Stand. Das war der Gründungsgedanke der Staatstheater und diese Maxime ist bis heute ein Grund dafür, warum die Theater in Deutschland stark öffentlich gefördert werden und die günstigsten Ticketpreise bewusst niedrig gehalten werden. Denn das Theater hatte von Beginn an immer auch eine soziale Funktion, mehr noch als die Literatur oder die bildende Kunst, und das einfach deshalb, weil das Erleben eines Schauspiels immer auch eine kollektive Erfahrung ist. Und wir alle kennen ja sicherlich das Gefühl, dass wir uns aufgewühlt von einem Theaterstück nach der Vorstellung im Foyer versammeln und über das eben Gesehene reden wollen. Eine intensive Theatererfahrung stimuliert uns, regt uns geistig an und manchmal auch auf. Wir erleben uns im Theater als leidenschaftliche, meinungsstarke Menschen, die nicht passiv bleiben wollen oder können. Wir werden uns bewusst, welche Überzeugungen, was für einen Gerechtigkeitssinn oder Sehnsüchte wir in uns tragen – wichtige Dinge, die im Alltag mitunter vom akut zu Erledigenden verdrängt werden, die unsichtbar zu werden drohen, obwohl sie ein Teil von uns sind. Insofern muss man gar nicht unbedingt „die Schaubühne“ eine „moralische Anstalt“ nennen, wie Schiller es getan hat, oder auf der Bühne in mahnenden Worten daran erinnern, dass wir auf Erden nicht allein, sondern Teil einer größeren Gemeinschaft sind – denn im Theater erleben wir das: Wir erleben uns in diesen Räumen als beteiligte, zur Empathie fähige Menschen und als Teil einer größeren Gemeinschaft. Diese banal anmutende Erkenntnis, dass das Theater uns zeigt, wie sehr wir Teil eines Kollektivs sind, ist in unseren post-oder auch noch nicht post-pandemischen Zeiten, in denen ein Netflix-Vergnügen auf dem Sofa oft den Besuch einer Veranstaltung ersetzt, das Homeoffice die früheren Kantinengespräche unmöglich macht und isolierte „Informationsblasen“ im Internet die Gesellschaft immer mehr parzellieren, ja auseinanderdriften lassen… In solchen Zeiten ist das Theater als Raum der Begegnung eben keine Banalität, sondern ein Potential, das es zu nutzen gilt: Denn wenn wir uns als Teil einer Gemeinschaft begreifen, fühlen wir uns auch stärker, zuversichtlicher, was unsere Handlungsfähigkeit angeht, und weniger ohnmächtig als allein, jeder für sich in seinen vier Wänden, in seiner konkreten Lebenssituation.
Doch wie schafft es das Theater genau, uns zu bewegen, uns so viel über uns selbst zu zeigen, obwohl wir doch zumindest als Zuschauende die meiste Zeit über still und äußerlich unbewegt in unseren Sesseln oder auch auf harten Stühlen sitzen? Auf der Bühne erleben wir Figuren, in deren Situation und Gefühle wir uns einfühlen können. Wir leiden mit ihnen, identifizieren uns mit ihnen, ihre Ängste und Sehnsüchte sind uns bekannt oder wir erleben diese als Steigerung und Zuspitzung dessen, was wir selbst erlebt haben. Wir erleben uns im Anderen, in der dargestellten Rolle und erkennen, dass Menschen in vergleichbaren, vielleicht noch härteren Situationen und zu anderen Zeiten ähnlich empfunden und so oder so reagiert haben. Gleichzeitig schauen wir als Publikum immer auch „von außen“ auf das Geschehen: Wir sehen, wie Figuren miteinander agieren, streiten, etwas aushandeln – manchmal mit produktivem, manchmal mit tödlichem Ausgang. Diese Doppelwahrnehmung, das Zusammenspiel von emotionaler Teilhabe und kritisch reflektierender „Draufsicht“ und Distanz ist das Besondere jeder Theater-Erfahrung – sie macht es möglich, dass wir als Zuschauer im Laufe eines Theaterabends sowohl „innerlich größer“, „empfindungsreich“, als auch erkenntnisreicher werden. Bei Theatertheoretikern von Aristoteles bis Brecht wird die Einfühlung in die Figuren dabei traditionell mit unseren Emotionen in Verbindung gebracht, die analytische Beobachtung des Geschehens wird dagegen unserem Geist zugeschrieben. Dabei sind diese beiden Elemente nicht wirklich oder nur theoretisch zu trennen, beides wirkt zusammen und wir kennen das auch – denn das, was heutzutage meist „Empathie“ genannt wird und im 18. Jahrhundert eher „Einfühlung“ oder „Mitleid“ genannt wurde, ist ja kein blindes Gefühl, sondern schließt auch ein geistiges sich Einlassen auf die Situation mit ein. Im Theater können wir verstehen, warum jemand so agiert, wie er agiert, und sein Handeln gleichzeitig emotional nachvollziehen. Wir erleben, welche individuelle Folgen gesellschaftliche Situationen haben können, wie zum Beispiel persönliche Zukunftsängste Menschen anfällig machen für populistische Manipulationen, und wir sind gleichzeitig so nah dran an den Figuren, dass wir uns nicht überheblich über sie stellen. Im Gegenteil: Weil wir ihnen nah sind, wir die Gründe für ihr Handeln ein Stück weit nachempfinden können, verurteilen wir sie nicht „von oben herab“. Wir nehmen auch „schlechte“ und „schwache“ Figuren ernst, und sind dabei trotzdem nicht parteiisch oder unkritisch: Denn gleichzeitig beobachten wir das Stück in seiner Entwicklung und können uns fragen, ob diese oder jene Situation so enden musste – oder ob es eine Alternative gegeben hätte, wenn an diesem oder jenen Punkt der oder die so und nicht so gehandelt hätte. Und genau das, die Möglichkeit einer Alternative ist ja das, was Bertolt Brecht im Sinn hatte, als er forderte, das Theater solle die Welt und speziell die gesellschaftliche Gegenwart als „veränderbar“ darstellen. Der Einfühlung, dem Mitleiden sollte dabei die Rolle zukommen, uns emotional von der Grausamkeit einer Ungerechtigkeit oder dem Glücksgefühl nach einer gelungenen Veränderung zu überzeugen, und diese empathisch erlebten Emotionen sollten uns die Kraft geben, uns anspornen, nach jenen alternativen sozialen Szenarien zu suchen und zu streben, die sich positiv auf Menschen wie die dargestellten Figuren auswirken würden; Verhältnisse, die Verrohung und Verhärtungen lösen und Verzweiflungstaten verhindern könnten. Ein großes, idealistisches Vorhaben, dem oft zur Last gelegt wurde, dass es dazu die komplexe Wirklichkeit und die menschliche Psyche zu sehr vereinfache, zu deterministisch sehe, und dabei mehr von der eigenen Weltanschauung ausgehe als von einer unvoreingenommenen Beobachtung der widersprüchlichen menschlichen und gesellschaftlichen Realität. Doch vielleicht lassen sich diese Gefahren umschiffen, wenn der Anspruch bescheidener ist, die Fragen anders gestellt werden, nicht gleich nach einem kompletten, heilsbringenden sozio-ökonomischen Modell gesucht wird, sondern punktuell gefragt wird, wo Veränderungen möglich sind; wie eine Beziehung oder die Situation eines Einzelnen verändert werden könnte, auch wenn sie auf den ersten Blick starr und ausweglos erscheint.
Das neuzeitliche Drama von Shakespeare, Moliere und Lessing bis zu den Uraufführungen in dieser Spielzeit zeigt soziale und persönliche Situationen grundsätzlich nicht als von Göttern auferlegte, sondern von Menschen verursachte Situationen. Und was von Menschen gemacht wurde, kann von ihnen auch sehr oft geändert werden. Nur muss es dazu erst einmal gesehen werden. Gesehen, begriffen und befragt. Wann und wie wirken sich unterdrückte Gefühle, die eigenen Lebenslügen und das Wegsehen destruktiv auf einen selbst und das eigene Umfeld aus? Wie oft nehmen wir für uns in Anspruch, aus edlen Motiven zu handeln, und haben dabei letztendlich aber auch ganz anderes im Sinn? Wie leicht kritisieren wir bei anderen etwas, von dem wir insgeheim wissen, dass wir selbst davon nicht frei sind? Und macht es die Spiegelung auf der Bühne einfacher, sich etwas einzugestehen, das man zwar schon geahnt hat, jedoch bei sich nicht wahrnehmen wollte? Ein Theaterabend zwingt uns zu nichts, kann uns aber treffen. Aufwühlen und so etwas anstoßen und in Bewegung setzen, dass sich vielleicht erst Tage oder Monate später manifestiert und doch mit dem Theatererlebnis zu tun hat.
Nein, einen Vladimir Putin können wir nicht ändern oder von seinem Handeln abhalten, in dem wir ihn verstehen – oder auch nur versuchen, ihn zu verstehen. Aber ihn zu verstehen hilft, die Erfolgschancen verschiedener Strategien, wie mit ihm umgegangen werden sollte, besser einschätzen und beurteilen zu können. Ein Bonmot unter Theaterleuten lautet: Jeden Politikertypus, von Putin bis Trump, von Scholz bis Biden, hat es bei Shakespeare schon gegeben. Und bereits Shakespeare blickte in die Vergangenheit nicht aus einem rein historischen Interesse heraus, sondern weil er das Verhalten dieses oder jenes Herrschers exemplarisch fand. Mehr noch, oft wird erst in seinen Stücken so manche historische Persönlichkeit, von der in den historischen Quellen fast nur Fakten überliefert sind, ein lebendiger Mensch mit eigenem Willen, Wünschen und Ängsten, mit offiziellen und heimlichen Motiven. Wobei natürlich Shakespeares Figuren letztendlich Fiktionen bleiben, aber: Altersstarrheit und Rachedurst, Größenwahn aus einer – narzisstischen oder kollektiven – Kränkung heraus oder auch weibliche Gewalt als Folge sexistischer Unterdrückung … All das finden wir bei Shakespeare, und nicht nur bei ihm. Oft denke ich in diesen Tagen an John von Düffels beeindruckende Bühnenfassung von Hans Falladas Roman „Wolf unter Wölfen“, eine Geschichte und ein soziales Panorama, das vor fast hundert Jahren während der großen Inflation spielt und auf ebenso bestürzende wie berührende Weise zeigt, wie Menschen aus Existenzangst verhärten, der Mensch dem Menschen zum Wolf werden kann.
Die historische Vergangenheit, von der wir wissen, wie und dass sie sich geändert hat, wird auf der Bühne exemplarisch, und auch die größte Niederlage, der Untergang ganzer Reiche zeigt uns: Es geht immer weiter. Die Frage ist nur: Wie? Und haben wir Individuen vielleicht doch die Möglichkeit, das Rad der Geschichte zu berühren und es ein wenig mitzudrehen? Und wenn nicht allein, dann vielleicht als Gruppe? Und wenn nicht im Großen, dann vielleicht im Kleinen, indem wir die Spuren sozialer Verwerfungen als solche zu erkennen lernen, und wir großzügiger, verständiger, hilfsbereiter werden? Wer auf der Bühne sieht, wie Menschen aus Scham und Verzweiflung Dinge tun, die sie eigentlich nicht tun wollen, Taten, von denen wir sonst entsetzt in der Zeitung lesen, kann diese Nachrichten in Zukunft vielleicht weniger schnell oder entschieden von sich wegschieben und als etwas abtun, das mit einem selbst nichts zu tun hat.
Und selbst aus Theaterabenden zu Themen, die mit unserem Leben und unserem Wirkungsfeld wenig zu tun haben, können wir gestärkt hervorgehen. Warum? Weil wir beim Erleben eines Schauspiels mehr noch als beim Erleben eines Fußballspiels in vielerlei Hinsicht angesprochen, gefordert und stimuliert werden: Nicht nur unser Verstand und unser Gefühlshaushalt, auch unsere Erfahrungen, unser emotionales Gedächtnis, unsere geheimen Wünsche und manchmal auch das, was unbewusst in uns schlummert, kann von dem Geschehen auf der Bühne angeregt, getriggert werden. Das gilt für die Menschen auf, vor und hinter der Bühne gleichermaßen. Im Theater erleben wir Lust, die Lust am Spiel bei den Schauspieler*innen und die Lust am Mitlachen und Mitträumen im Publikum. Wir freuen uns an dem, was Fantasie alles möglich macht, und spüren, wieviel Sehnsucht in uns ist, Sehnsucht nach Freude, Leichtigkeit, nach Freiheit und bedeutsamen Begegnungen. In diesem Sinne zeigt uns jeder Theaterabend nicht nur die Macht des Möglichen in Bezug auf die Welt, sondern auch in Bezug auf uns. Um es in den Worten des 18. Jahrhunderts zu sagen: Das Theater erbaut und stärkt uns, weil wir uns hier als Menschen erleben, nicht als reine Arbeitskräfte, Konsumenten, Kollegen oder Patienten, Partner oder Kinder oder Eltern usw. Und – wir erfahren uns im Theater als eine notwendige, sinnvolle Gemeinschaft. Theater funktioniert nicht ohne Darsteller*innen und ebenso wenig ohne Publikum. Nur wir alle gemeinsam machen das Theater real.
Ein letzter Punkt scheint mir gerade in unserer Gegenwart elementar wichtig: Wir gehen ins Theater, um uns in anderen Schicksalen und Zeiten zu verlieren und wiederzufinden. Die Macht des Möglichen ist im Theater daher immer auch die Möglichkeit, sich selbst ein Stück weit zu verlassen und die Welt mit anderen Augen, aus mehreren Perspektiven zu sehen. Das wirkt befreiend, denn wer sich selbst verlassen kann, fühlt sich weniger in sich eingesperrt. Und genau dies, die Welt mit anderen Augen, aus einem anderen Blickwinkel sehen und erfahren zu können, scheint mir heute notwendiger denn je in einer Zeit, in der lautstark gefordert wird, die Unterscheide zwischen uns nicht zu ignorieren und zu respektieren, was damit verbunden ist: Mit unserer Hautfarbe, unserem physischen und empfundenen Geschlecht, unserer Nationalität, sozialen Herkunft usw. Diese Unterschiede anzuerkennen ist nicht zuletzt um Ungerechtigkeiten bekämpfen zu können wichtig und notwendig, und gleichzeitig bleibt es genauso wichtig, ja, ist es heute vielleicht sogar noch wichtiger als vor zehn, zwanzig Jahren, sich in andere Menschen einzufühlen und nicht den Glauben zu verlieren, dass dies möglich ist! Dass es möglich ist, Differenzen anzuerkennen und zu respektieren, ohne das Gefühl dafür, was uns verbindet und eint, zu verlieren – auch das kann Theater uns nahebringen.
Und so scheint das Theater in unsicheren Zeiten wie den aktuellen wichtiger denn je: Als Ort der Begegnung und ehrlichen Diskussion, als ästhetische Erfahrung, die uns zu elementaren Teilen unserer selbst zurückführt; als ein ganzheitliches, intensives Erlebnis, das uns Mut macht, inspiriert, Trost spendet und stärkt; als ein Ort, der der Gegenwart ihre Allmacht nimmt, indem er auch unsere Epoche als einen Punkt auf einem langen Zeitstrahl erkennbar macht; als einen Ort, in dem wir uns im Anderen verlieren und wiederfinden können und als einen Ort, in dem wir gemeinsam ein Glas Sekt trinken und den Preisträger*innen gratulieren können.
In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen noch einen schönen Vormittag.
Vielen Dank.